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[5] Heiße Tage in Moabit

Quelle: „SED Tiergarten: Das war Moabit“

„Es waren heiße Tage damals im September 1910. Ich arbeitete bei der Kohlenfirma Ernst Kupfer u. Co. in der Nähe des Bahnhofs Beusselstraße. Der Chef, ein Herr Buschmeyer, war vorher Angestellter bei Stinnes. Stinnes hatte auch das meiste Kapital in diesem Laden. Schwer war es damals. Die Unternehmer bereiteten sich auf den großen Job im ersten Weltkrieg vor. Innerhalb weniger Jahre zogen die Preise rapid an: Butter zehn Pfennige teurer, Brot sieben Pfennige, dann wieder Margarine und so ging das laufend weiter. Dazu stiegen die Mieten an. Die Löhne aber blieben: 30 Mark je Woche bei 12 Stunden Arbeitszeit.
Eines Tages, es war der 18. September 1910, wurde es den Kohlenarbeitern und Kutschern von Kupfer u. Co. doch zuviel. Wir wollten nicht länger für die paar Pfennige von früh bis spät schuften. Unsere Forderungen lauteten: Erhöhung des Stundenlohnes der Kohlenarbeiter von 43 auf 50 Pfennige und Erhöhung des Wochenlohns der Kutscher um 3 Mark. Doch der Chef warf die Lohnkommission des Transportarbeiterverbandes und zwei von unseren Kollegen aus dem Büro und ließ sich auf keine Verhandlungen ein.
Darauf hielten wir Arbeiter im Lager eine Beratung ab und beschlossen, ab sofort in den Streik zu treten.
141 Arbeiter waren es. Niemand wusste damals, welch großes Ausmaß der Streik annehmen sollte.
Die Metallarbeiter von der AEG und von Loewe waren schon lange unzufrieden und unterstützten uns. Das wussten auch die Unternehmer. Sie boten alles auf, um den Streik abzuwürgen. Unter dem Schutz eines starken Polizeiaufgebotes versuchten Streikbrecher unsere Arbeit zu übernehmen.
Wir versuchten die Kohlenabfuhr zu verhindern und rissen nachts das Straßenpflaster vor den Lagerplätzen auf. Die Polizei schritt ein. Aber wir erhielten von allen Seiten Hilfe. Die Solidarität war groß. Als die Polizei mehrere leer stehende Wohnungen für die Streikbrecher vermittelt hatte, wurden die Hausbesitzer durch die Streikenden gezwungen, alle Mietverträge wieder rückgängig zu machen. In Moabit konnte die Firma Kupfer keine Lebensmittel, Decken und andere Gegenstände bekommen.
Als bekannt wurde, dass ein Kaufhaus in Moabit Decken an die Firma Kupfer geliefert hatte und die Moabiter Bevölkerung eine drohende Haltung gegen die Besitzer dieses Kaufhauses einnahm, hängten die Geschäftsleute Plakate in die Schaufenster, in denen sie versicherten, dass sie mit den Streikbrechern nichts gemein haben. Die Ärzte verweigerten der Polizei Auskunft über Verletzte.
Das war kein kleiner Streik um irgendwelche nur wirtschaftliche Forderungen. Kupfer u. Co. sollte für Stinnes den Berliner Kohlenmarkt erobern.
Um Pfennige kämpften wir damals – um Pfennige, die uns bitter zum Leben fehlten für Brot und Margarine, für Milch und mein Sechstes. Wir wehrten uns mit nackten Fäusten gegen die schießwütigen Streikbrecher und ihre säbelrasselnden Beschützer. Stinnes aber jagte mit Erfolg Telegramme an den Berliner Polizeipräsidenten von Jagow, an den preußischen Innenminister von Dallwitz und an den Reichskanzler von Bethmann-Hollweg.
Durch Moabit wurde ein dichter Polizeikordon gezogen. Die Sickingen-, Rostocker, Berlichingenstraße waren vollgepropft mit Blauen. Dasselbe Bild in der Wittstocker, Wiclef-, in der Beusselstraße, in der Wald-, Gotzkowsky- und Huttenstraße. Kriminalpolizei mischte sich in Arbeiterkleidung unter die Ansammlungen. Die Moabiter Bevölkerung aber ergriff Partei für die Streikenden.
Sie kam in Bewegung, als in den Mittagsstunden des 26. September bei Loewe ein bewaffneter Streikbrecher auf einen Arbeiter schoss, die Polizei den Banditen schützte und gegen die Arbeiter vorging. Ein Hagel von Flaschen, Töpfen und Steinen war die Antwort der Arbeiter in Moabit auf das Verhalten der Polizei. Am 27. September 1910 gab der persönlich erschienene Polizeipräsident von Jagow den unerhörten Befehl, den Widerstand der Bevölkerung mit der Schusswaffe zu brechen. Und dann knallte es durch die Gegend, mitten hinein in die erregten Menschen, die weiter nichts taten, als ihre Lebensrechte zu verteidigen. Als es an diesem Abend still wurde, lagen zwei Arbeiter in ihrem Blute auf der Straße und einige hundert Männer und Frauen waren verletzt.
Stinnes triumphierte. Er hatte gewonnen und stiftete großzügig der Berliner Polizei 10.000 Mark.
Ja, dieser Streik ging damals verloren. Die Arbeiter und die Bevölkerung von Moabit aber hielten zusammen und schlossen ihre Reihen fester.“

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